Reise nach Bugrino

Kolguev, die Gänseinsel, liegt mitten in der Barentssee. Bugrino, das einzige Dorf auf der Insel, ist vielleicht der Ort Europas, den man am schlechtesten erreichen kann. Unser Weg führte uns vom Berliner Flughafen mit Umstiegen in Moskau und Archangelsk nach Nayarn-Mar, der Hauptstadt des Autonomen Nenets Districts. Einen Tag hatten wir uns hier für Einkäufe wichtiger Verpflegung fürs Camp sowie einige technische Dinge eingeplant. Bei unserer Ankunft in Nayarn-Mar am Peschora-Fluss herrschten Temperaturen von knapp 30°C. Doch am folgenden Tag war es deutlich kühler und mittags fing es stark an zu regnen.
Am 29.06. ging der Helikopter zur Insel. Morgens um 9 Uhr treffen sich alle am Flughafen und erst dann werden die Tickets verkauft. Für die 21 Sitzplätze im Helkopter gibt es oftmals mehr Interessenten. Dank unserer Einladung durch die Distriktverwaltung bekamen wir unsere Tickets zuverlässig. Und so starteten wir gegen 10:30 Uhr einem einem ziemlich vollgepackten Hubschrauber in Richtung Kolguev.

Nach 1,5 Std im Helikopter Typ Mi8-MTB erreichen wir Bugrino. Kolguev liegt bei unserer Ankunft unter dichten Wolken, die so tief hängen, dass man fürchten musste, der Hubschrauber könne deswegen heute nicht landen. Als wir aussteigen, empfängt uns eine große Menschentraube: die Landung des Hubschraubers ist ein großes Ereignis in Bugrino. Nur alle 14 Tage gibt es eine Verbindung von Nayarn-Mar nach Kolguev. Gemeinsam mit den vielen Leuten empfängt uns auf der Insel aber auch Nieselregen, recht kühle Temperaturen und ein frischer Wind.
Auf dem hölzernen Landeplatz werden wir von Albert, einem Einwohner Bugrinos empfangen. Unsere russichen Kollegen und ihn verbindet eine lange Freundschaft und er ist immer gern bereit, uns bei den Expeditionen auf Kolguev zu helfen. Nach einer freundschaftlichen Tasse Tschai (Tee) in seinem Haus, brechen wir mit dem Vestichot in Richtung Forschungscamp auf. Das Vestichot ist das einzige Transportmittel in der russischen Arktis neben dem Hubschrauber. Von außen ähnelt ein Vestichot einer Pistenraupe in den Alpen, ist allerdings flacher gebaut. Im hinteren Teil befindet sich ein Stauraum, im Führerhaus können zwei Personen sitzen. Die restlichen Passagiere müssen auf dem Dach Platz nehmen und sich gut festhalten. Um allzu große Schäden durch das Kettenfahrzeug in der Tundra zu vermeiden, gibt es festgelegte "Straßen", die auch auf allen Karten verzeichnet sind. Nur auf diesen darf ein Vestichot fahren. Was allerdings Steigungen und Abhänge von bis zu 80% Neigung, tiefe Wasserlöcher und Flußdurchquerungen keineswegs ausschließt.
Der Ritt auf dem Vestichot war ein besonderes Ereignis: man sitzt oberhalb zweier riesiger Propeller, die den Motor kühlen. Es regnete teils wie aus Eimern, doch trockneten Jacke und Hose dankt der Abluft in kürzester Zeit. Stets muss man nach vorne schauen, um sich bei einer Bodenwelle kräftig festzukrallen und man sitzt wenig bequem. Am der Ende der geht achtstündigen Fahrt (für 65km Luftlinie) waren alle froh, am Camp angekommen zu sein.

Angekommen im Camp

Im Gegensatz zu den Expeditionen 2006-08 durften wir diesmal unbenutzte Hütten der Rentierleute als Quartier für unsere Forschungsarbeiten nutzen. Traditionell liegen diese Hütten oben auf den Hügeln (durch Minderung der Mückenplage). Das kleine Dorf besteht aus sechs Hütten. Nicht alle sind in bestem Zustand, doch seit ihrer Ankunft hatten die Kollegen schon einige Reparaturarbeiten durchgeführt. Die größte Hütte stammt aus den Zeiten der Ölexploration auf Kolguev. Diese Hütten sind auf massiven Kufen gebaut und wurden damals mit Traktoren im Winter durch die Tundra gezogen. Hierin befindet sich das Zentrum des Camps: Küche und "Wohnzimmer".
Wir wurden herzlich begrüsst und zunächst einmal mit Essen versorgt. Am Rand des Camps errichteten wir danach unsere Zelte.

Vögel rund um unser Camp

In den folgenden Tagen begannen alle mit ihren Arbeiten der geplanten Untersuchungen. Überall rund um das Camp trifft man Vögel verschiedener Arten. Unterhalb des Camp hat sich im Kliff des Peschankafluss eine Weißwangenganskolonie angesiedelt. Mehr als 80 Paaren nisten um das Camp herum. Teilweise liegen ihre Nester direkt auf dem Weg zu unserer Wasserstelle. Mit großem Protest reagieren die Gänse auf Menschen in der direkten Umgebung des Nestes - doch bis auf fünf Meter lassen sie uns problemlos passieren.
Direkt im Camp nisten ebenfalls die Temminckstrandläufer. Sie bevorzugen Nistplätze mit offenem Boden und Weidengebüschen in der Nähe von Gewässern. Zwischen den Hütten fanden wir insgesamt 4 Gelege dieser sehr kleinen Watvogelart.
Nur 500m vom Camp entfernt beginnt das Moor. Hier brüten nicht nur die Weißwangengänse, Eismöwen und Schmarotzerraubmöwen, sondern auch Goldregenpfeifer. Selbst im Prachtkleid sind sie außerordentlich gut an die Landschaft angepasst und gar nicht so leicht zu entdecken. Dagegen fallen die Männchen des Kiebitzregenpfeifers sehr viel stärker auf. Ihr Gefieder ist stark schwarz-weiß kontrastiert und daher leucht in der Tundra zu entdecken. Schon über große Distanzen warnen die Altvögel, wenn Menschen in die Nähe des gut versteckten Geleges kommen.

Am Hang des Camphügel wachsen viele Weiden. Im Windschatten des Hügels werden sie sogar mehr als 40cm hoch. Hier fühlt sich das Rotsternige Blaukehlchen zuhaus. Das Männchen fällt durch seine billiant-blau Brust mit dem roten Fleck auf. Sie suchen für den Gesang gerne erhöhte Punkte, von wo ihr Brutfleck weit in die Landschaft leuchten kann.
An den großen Seen brütet die einzige Schwanenart Kolguevs, der Zwergschwan. Das Nest wird zumeist am Gewässerrand angelegt. Beide Schwaneneltern wachen über die Familie. Bei Gefahr fliehen sie auf das Wasser, doch sind auch Wanderungen durch die Tundra für die Schwäne nichts besonderes.
Wer den Camphügel hinunterläuft oder Wanderungen durch die Tundra macht, wird überall von den schrillen Warnrufen des Alpenstrandläufers empfangen. Sie brüten überall in mehr moorigen Bereichen, wo man auch etwas offenes Wasser findet. Auf Kolguev brüten Alpenstrandläufer in recht großen Dichten - und die Altvögel lenken die möglichen Feinde von Gelege und Küken gerne ab. So kommen sie auch uns Menschen oftmals fast zutraulich nah.
Unauffälliger und kleiner dagegen ist der Zwergstrandläufer. Er brütet ebenfalls am Boden in der Tundra. Seine Nahrung sucht gerne auch auf den Torfmoosflächen im Moor. Dieser kleine Watvogel ist in einem Auftreten recht unstet. Die durchziehenden Vögel bauen dort ihre Nester, wo es gerade attraktiv erscheint. Daher schwanken ihre Zahlen von Jahr zu Jahr recht deutlich.

Die Sache mit dem Strom

Auf Kolguev weht eigentlich immer eine steife Brise. Inmitten der Barentssee kommt der Wind zwar immer aus unterschiedlichen Richtungen, doch sind windstille Tage die absolute Ausnahme. Was liegt da näher als den Strombedarf mit einer kleinen Windanlage zu decken wie dies auch auf unzähligen Segelyachten an der Nordsee geschieht? Fast vier Wochen verrichtete die mitgebrachte Windanlage auch einen Superjob, doch kurz vor unserer Ankunft ging nichts mehr: die Anlage bremste automatisch und lieferte keinen Strom mehr. Mittels englischem und deutschem Handbuch und Kontaktaufnahme in Deutschland mittels Satellitentelefon das ernüchternde Ergebnis: ein defekter Kondensator auf der Hauptplatine macht die Anlage unbrauchbar. Ab sofort nur noch Strom vom Benzingenerator.
Doch auch hier ließen die Probleme nur gut 10 Tage lang auf sich warten. Der Generator begann zu stottern und ging aus. Ganze drei Tage lang dauerte die komplette Zerlegung und Reinigung des Aggregates bevor es wieder tadellos funktionierte.

Forschung an Wildgänsen

Für arktische Gänse ist Kolguev ein Paradies. Der Schnee schmilzt hier früher als in anderen Teilen der Arktis. Den ganzen Sommer herrschen nur frühlingshafte Temperaturen und das Fehlen der Lemminge macht die Zahl der Prädatoren zumindest kalkulierbar. Doch welchen Einfluss haben Wetter und Witterung auf den Bruterfolg der Gänse? Seit 2006 untersuchen wir Brutdichte, Schlupf- und Aufzuchterfolg der Blessgänse auf Kolguev. Dies alles schwankt zwischen den Jahren. Bemerkenswert deutlich ist aber der Zusammenhang von Schneeschmelze, Legebeginn und Bruterfolg: schmilzt der Schnee früh, beginnen die ankommenden Gänse sogleich mit dem Brutgeschäft. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen den hoch- und tiefgelegenen Bereichen der Insel. So erreichen die Gänse, dass alle Küken innerhalb von nur knapp sechs Tagen schlüpfen. Für die Fressfeinde ist das schlecht: sie haben kaum Zeit, sich an den Überfluss zu gewöhnen, da sind die Küken auch schon ordentlich gewachsen und sehr viel schwerer zu erbeuten. In Jahren mit später Schneeschmelze zieht sich das Brutgeschäft zeitlich stark auseinander: die Küken schlüpfen in einem langen Zeitraum und Prädation wirkt sich sehr viel stärker aus.

Um über das weitere Schicksal der Gänse von Kolguev mehr zu erfahren, werden einige Vögel mit ablesbaren Halsmanschetten gekennzeichnet. Auf der Herbstwanderung und im Winterquartier werden die Halsmanschetten häufig von gänsebegeisterten Vogelbeobachtern abgelesen und gleichzeitig werden wichtige Informationen über die Zahl der Jungtiere oder die Kondition des Vogels gesammelt. Durch diese individuellen Ergebnisse lässt sich heute sehr viel über die Brutbiologie, Prädation und das Zugverhalten der Vogel lernen.

Probleme durch neue Nachbarn?

Weißwangengänse brüteten noch Ende der 1970er Jahre nicht auf Kolguev. Erst nach einigen Sturmereignissen und im Zusammenhang mit der allgemein positiven Bestandsentwicklung dieser Art begannen die ersten Paare 1982 auf Kolguev zu brüten. Mitte der 1990er Jahre waren es bereits mehrere tausend Paare und 2006 ermittelten wir allein in der Peschanka-Kolonie nicht weniger als 60.000 Paare. Die neuesten Ergebnisse zeigen, dass sich die Kolonien seitdem weiterhin vergößert haben. Außerdem finden wir immer mehr Kolonien auch im Zentrum die Insel. Ursprünglich fanden sich diese nur in der Nähe von Raufussbussard- oder Wanderfalkenhorsten, doch hat sich das Bild 2011 drastisch geändert: Eisfüchse waren kaum zu finden und die Weißwangengänse brüteten auch in der offenen Tundra.
Doch welche Konsequenzen hat die Ausbreitung der Weißwangengänse für die anderen Arten? Aktuell lässt sich das schwer beantworten. In jedem Fall stellen sie eine zusätzliche Nahrungskonkurrenz dar und die großen Kolonien locken weitere Fressfeinde an. In den kommenden Jahren werden wir auf diesen Aspekt noch viel mehr Augenmerk richten.

Mitternachtssonne

Unser Camp auf Kolguev befindet sich auf dem 69ten Breitengrad. Bis zum Nordpol ist es noch ein ganzes Stück. Dennoch herrscht hier der polare Sommer und die Sonne geht nie wirklich unter. Einzig Wolkenbänke können einer Dämmerungsstimmung erzeugen. Für uns ist das immer wieder eine einzigartige Erfahrung: die Abende können unversehens sehr lang werden. Im Zelt weiß man nie genau, ob es schon Aufstehzeit ist oder ob man sich nochmals herumdrehen kann. Wer hier ohne Uhr lebt, läuft Gefahr, aus dem Rhythmus zu geraten! Dennoch ist die Mitternachtssonne sehr praktisch. Weite und lange Touren kann man in der Tundra gefahrlos unternehmen und muss nicht vor der Dämmerung wieder im Camp sein. Klart an einem Regentag der Himmel am Abend wieder auf, kann man nochmal los und seine Studien fortsetzen. Und doch ist die Mitternachtssonne auf Kolguev nicht wie am Tage. Das warme Licht und die Neigung zu einer abendlichen Bewölkung zeigen Mensch und Kamera den Beginn der Nacht.

Kolguev Expedition 2011: das Team

Zum Abschluss der Kernphase des Expedition (und 2/3 der Gesamtdauer) haben wir ein Gruppenfoto gemacht.
v.lks. nach rts: Alexander Kondratyev, Sonia Rozenfeld, Gerhard Nikolaus, Franziska Hillig, Dirk Hattermann, Olga Pokrovskaya, Alexander Dimitriev, Volker Blüml, Gundolf Reichert, Petr Glazov, Helmut Kruckenberg

Treffen zum Abschied

Drei Wochen vor Ort: unsere Zeit im Camp geht ihrem Ende entgegen. Auch für unserer drei Kollegen im Peschoradelta-Camp geht die Zeit dort zuende. Das Vestichot holt sie ab und bringt sie die 65km zum Hauptcamp zurück. Am Abend wird das Wiedersehen und gleichzeitig unser Abschied gefeiert. Gutes Essen und Lieder zur Gitarre bestimmen den Abend. Gleichzeitig wird natürlich viel erzählt: seit Anfang Juni haben sich beide Teams nur über das Funkgerät unterhalten können. Es werden Fotos gezeigt und kurz berichtet, was sich in den 4 Wochen alles ereignet hat.

Mit dem Vestichot zurück

Am Morgen des 12. Juli ist es dann soweit: das Vestichot wartet. Alle sind früh aufgestanden, haben die Sachen gepackt und schon in Rucksäcken verpackt. Um 10 Uhr sind alle Rückreisenden startklar - und lassen ein kleineres Team von sechs Leuten im Camp zurück.
Diesmal scheint die Sonne und die Fahrt auf dem Vestichot macht deutlich mehr Freude. Man kann durch gucken und von der erhöhten Position blickt man wunderbar auf die Seen an Wegesrand. Hier schwimmen Gänse- und Entenfamilien. In der Tundra scheuchen wir immer wieder Altvögel auf, während sich die Küken in die Bulten und Büsche drücken. Wir fahren vom Nordwesten der Insel in fast gerade Linie nach Süden. Der Weg führt uns nach Bugrino.

Bugrino im Süden Kolguevs

Es gibt nur eine richtige Siedlung auf Kolguev: Bugrino. Hier wohnen rund 400 Leute, zumeist Nenets. Ursprünglich war Kolguev unbewohnt, doch bereits im 19. Jahrhundert brachten Kaufleute aus Archangelsk die ersten Nenets auf die Insel, um dort Rentiere zu züchten. Als in den 1950er Jahren die sowjetische Regierung auf Novoja Zemlya Atomversuche durchführen wollte, evakuierte sie die gesamte einheimische Bevölkerung und verteilte sie entlang der Barentsseeküste. So kamen weitere Nenets nach Kolguev, die aber einen anderen Dialekt sprechen und sich auf ihrer Sprache nicht mit ihren Nachbarn verständigen können. Im Dorf spricht man daher Russisch.