Forschungen in der hohen Arktis

Wildgänse brüten mit Ausnahme der Graugans in den arktischen Sümpfen, Mooren und Tundren. Die Waldsaatgans brütet in der Taiga, der sibirischen und skandinavischen Waldzone. Auch die Zwerggans brütet oftmals in sumpfigen Offenlandschaften der bewaldeteten Bereiche Sibiriens.
Um zu verstehen, welche Faktoren die Bestandsentwicklungen der Gänsearten beeinflussen und welche Auswirkungen Wetter, Klima, Jagd, Landwirtschaft oder Lebensraumveränderungen auf unsere Wintergäste haben, benötigen Natur- und Vogelschutz verlässliche Informationen aus die Brutgebieten der Gänse.

Blessgänse brüten in einem weiten Areal zwischen der Kanin-Halbinsel im Westen und der Taimyr-Halbinsel an der Mündung des Jenesseij im Osten. Dieses Gebiet umfasst viele hunderttausend Quadratkilometer. Nach den bekannten Angaben brüten die Blessgänse in diesen Gebieten mit einer geringen Dichte von 0,1 - 0,4 Nestern / km². Einzig auf der Insel Kolguyev inmitten der Barentsee fanden russische Wissenschaftler 1994 eine Nestdichte von 24-40 Nestern /km². Seitdem konnte aber niemand diese Angaben überprüfen. Die große Zahl der brütenden Gänse sowie die Frage nach der Bedeutung dieser Insel für die gesamte Population verlasste 2006 russische und deutsche Gänseforscher erstmals, nach Kolguyev zu reisen und die Insel zu untersuchen.
Ende Mai 2007 kehrten die Gänseforscher nach Kolguyev zurück. Diesmal war das Zentrum der Insel das Ziel der Expedition.

Seit die Wildgänse nach einem dramatischen Bestandszusammenbruch in den 1950er Jahren in verschiedenen Ländern unter Schutz gestellt wurden und die Bestände sich erfreulicherweise wieder erholen konnten, findet immer wieder eine kontroverse Diskussion um die Frage statt, wievielen Wildgänsen die reichen Industrienationen Europas im Winter Nahrungs- und Ruheflächen bieten können. Um die Frage nach den natürlichen Grenzen von Gänsepopulationen beantworten zu können, sind grundlegende Kenntnisse der Biologie und der Regulationsmechanismen erforderlich. So befassen sich Gänseforscher intensiv mit den Gänse im Wintergebiet, auf dem Zugweg und in den Brutgebieten.
Blessgänse zeichnen sich durch einige Punkte aus: sie sind bei uns die häufigste arktische Gänseart im Winter, die brüten in einem unvorstellbar großen Areal der sibirischen und russischen Arktis, sie zeigen ein komplexes Zugverhalten und sie werden intensiv bejagt. Unser Wissen über diese Art ist relativ gering. Trotz intensiver Bemühungen liegen derzeit keine genauen Zahlen darüber vor, wieviele es von ihnen überhaupt gibt. Da Blessgänse auch in schwer zugänglichen Regionen wie z.B. dem Irak, Iran, Aserbaidsan, der Türkei oder Kachstans überwintern, bleiben die internationalen Synchronzählungen unvollständig. Beringungen mit Metallringen haben gezeigt, dass die Blessgänse aus Westeuropa durchaus ihr Wintergebiet nach Südosten wechseln können. Wie oft dies vorkommt, unter welchen Bedingungen und warum, das sind bedeutsame Fragen, die für den Schutz der Art relevant sind.
Alle Populationen sind begrenzt. Keine Tier- oder Pflanzenart kann sich unbegrenzt vermehren. Dies gilt auch für Wildgänse. Zugvögel unterliegen vielen Einflüssen. Sie brüten in abgelegenen Bereichen, die im hohen Norden zudem wenig Nahrung bieten, wo natürliche Feinde Eiern, Küken und Alttieren nachstellen und sie zudem dort starken Wetterschwankungen unterliegen. Sie fliegen weite Strecken und nicht jeder Vogel überlebt die Strapazen des Langstreckenfluges. Zuletzt überwintern sie in Europas technisierter Agrarlandschaft zwischen Laufställen, Intensivgrünland, Windanlagen und Industriegebieten. Und überall wo die Gänse durchziehen stellen die Menschen ihnen mit Gewehren nach. Doch welche dieser vielen Faktoren ist entscheidend für die Populationsentwicklung? Dies ist die wichtige Frage, der wir in zahlreichen Untersuchungen nachgehen, um Politikern, Entscheidungsträgern, Gerichten, Natur- und Vogelschützern oder Landwirten Antworten geben zu können.

Wir danken dem <LINK www.vogelschutzkomitee.de>Vsk Vogelschutz-Komitee</link> e.V (Hamburg) und deren zahlreichen Spendern sowie ECORA, ohne deren finanzielle Unterstützung diese Forschungsarbeiten nicht möglich gewesen wären.

Kolguyev - umgeben vom Eismeer

Kolguyev liegt nordöstlich der Kanin-Halbinsel im europäischen Teil des russischen Eismeeres. Die Insel ist etwa 4000km² groß und damit halb so groß wie Belgien. Sie liegt 90km vor der Festlandsküste.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts war Kolguyev unbesiedelt. Erst danach wurde die Insel von Angehörigen des Nenets-Volkers besiedelt, die dort für einen Geschäftsmann aus Archangelsk Rentiere züchteten. Zu dieser Zeit wurde auch Bulgrino gegründet. Bis in das 20. Jahrhundert war Rentierzucht das einzige Geschäft auf der Insel. Als die russiche Regierung in den 1960er Jahren beschloß, Atomversuche auf Nowoya Zemlya durchzuführen, wurde ein Teil der Ureinwohner von dort nach Kolguev umgesiedelt. Heute leben etwa 400 Nenets auf Kolguyev.
Seit geraumer Zeit wird zudem der Nordosten der Insel auf Ölvorkommen hin untersucht. Die Arbeiter der Ölfirmen leben in einem kleinen Dorf für ein Drittel des Jahres. Danach wird das gesamt Team ausgetauscht und gegen eine andere Crew aus Murmansk ausgetauscht.
Kolguyev ist eine der Projektregionen des <LINK http://www.grida.no/ecora/index.htm>ECORA</link>-Projektes der Vereinten Nationen und der russischen Regierung. Um Grundlagendaten und Leitlinien für einen optimalen Schutz der empfindlichen Arktis und für naturverträgliche Nutzung durch die langjährigen Einwohner Kolguyev zu entwickeln, werden Forschungsprojekte ganz verschiedener Fachrichtungen hier unterstützt.

Kolguyev Expedition 2006

Die erste Expedition führte 2006 in das Mündungsgebiet des Pechanka-Flusses im Osten der Insel. Hier hatten die russischen Forscher V. Morozov & Syrochekovski 1994 ihr Forschungscamp aufgebaut und es war ein wichtiges Ziel der Expedition, die damaligen Ergebnisse auf den gleichen Probeflächen zu überprüfen.
Ein Diplomand der Moskauer Universität hatte zudem die Aufgabe bekommen, sich intensiv um die Kolonie der brütenden Nonnengänse im Pechanka-Delta zu bemühen. 1994 wurde ihre Größe mit 5.000 Brutpaaren angegeben. Die aktuelle Größe der Kolonie sowie der Bruterfolg der Nonnengänse dort und auch mögliche Gefährungsursachen (Eiersammeln, Jagd oder die Ölexploration vor Ort) waren weitgehend unbekannt. Knapp drei Monate sammelte Yuri Anisimov Daten, zählte Nester und Küken. Am Ende konnte er in einer Hochrechnung zeigen, dass die Pechanka-Kolonie heute ca. 35.000 Brutpaare beherbergt.
Die Blessgänse wie auch die Saatgänse hingegen brüten verstreut in der Tundra. Auf Probeflächen wurde ihre Dichte bestimmt, mittels kilometerlanger Korridorzählungen die unterschiedliche Dichte in den verschiedenen Habitaten der Insel. Am Ende konnten die Wissenschaftler 2006 die hohe Brutdichte auf Kolguyev bestätigen. Nutzt man die Daten von diesem einen Jahr, so könnte Kolguyev 20% der gesamten Blessganspopulation als Brutgebiet dienen. Lesen Sie hier <LINK 337>mehr</link>.

Kolguyev Expedition 2007

Im Sommer 2007 kehrten die Gänseforscher nach Kolguyev zurück. In diesem Jahr schlugen sie das Camp in der Mitte der Insel auf. Von hier sollte sowohl das Zentrum als auch der Westen erkundet werden. Gleichzeitig war das alte Camp nur soweit entfernt, dass auch die Probeflächen von 1994/2006 erneut untersucht werden konnten.
Im Zentrum Kolguyevs ist die Landschaft stark durch die Eiszeiten geprägt. So wie es hier aussieht, hat es in Deutschland vor ungefähr 8000-9000 Jahren ausgesehen als die Gletscher der Eiszeit erst vor wenigen hundert Jahren geschmolzen waren. Durch ein ehemaliges Tundren-Plateau hat sich der Pechanka tief eingefressen. Bäche mit steilen Tälern durchschneiden die Flächen ebenfalls, aber auf den flachen Höhen breiten sich große Moore aus. Im Süden des Untersuchungsgebietes findet sich eine Endmoräne, gekennzeichnet durch höhere Hügel und zahllose Schmelzwasserseen. Dies ist das Gebiet der grauen Gänse (Bless- und Saatgans), während die Nonnengänse sich mehr an den Küsten finden.
Das Wetter des arktischen Frühjahrs unterschied sich zwischen 2006 und 2007 sehr deutlich. In 2007 war es erheblich kälter, Frost kam noch bis zum 9.Juni nachts vor und auch einigen Schneefall mußten Gänse und Forscher ertragen. Doch die Forscher sind damit sehr zufrieden: je größer die Unterschiede zwischen den Untersuchungsjahren sind, desto eindeutiger läßt sich in der Auswertung die Bedeutung des Wetters für die Gänse ermitteln! Lesen Sie über die Expedition 2007 hier <LINK 326>mehr</link>.

Kolguyev Expedition 2008

Im Mai 2008 kehrten die Gänseforscher erneut nach Kolguyev zurück. Diesmal war ein deutscher Diplomant von der Universität Oldenburg während der gesamten Saison dabei.
In diesem Sommer wurden verschiedene Nester mit Videoüberwachung ausgestattet. Zudem bekamen mehrere Brutvögel mit Radiosendern ausgerüstete Halsmanschetten, um sie während der Jungenaufzucht in der Tundra verfolgen zu können.
Natürlich wurden wiederum die einzelnen Gebiete auf Kolguyev nach Gänsenestern abgesucht und der Schlupf- und Bruterfolg der Gänse untersucht. Gemeinsam mit dem Präsidenten des Vogelschutz-Komitee und einigen Gänsefreunden besuchten wir das Forscherteam im Juni. Lesen Sie hier <LINK 321>mehr</link>.