Vom dritten Teil der Expedition berichtet Nicole Feige

Der dritte Teil der Expedition war wieder ganz anders als der erste und zweite. Er stand ganz im Zeichen des Gänsefangens und der Beringung. Als der Helikopter am 19.Juli im Camp landete, brachte er Jochen Dierschke aus Deutschland mit und nahm Jari Kontiokarpi wieder zurück nach Hause. Jochen brachte getrockneten Fisch aus Tobseda mit, ein Geschenk der niederländisch-russischen Crew und auch eine Erkältung, die nach und nach jeden von uns erwischte...

Schlupferfolge

Die nächsten Tage suchten wir sämtliche Nester auf, die wir während der ersten zwei Monate gefunden haben. Anhand der Anzahl der Membranen konnten wir feststellen, wie viele Küken ausgeschlüpft waren. Manchmal fanden wir Nester, die völlig leer waren – sie waren „prädiert“: Füchse, Rentiere oder Möwen (die sogenannten „Prädatoren“) konnten in einem Moment der elterlichen Unwachsamkeit die Eier aus dem Nest stehlen. Während Möwen und Rentiere die Eier für gewöhnlich sofort auffraßen bzw. ihrem Nachwuchs brachten, konnten wir mehrere Male beobachten, wie der Fuchs die Eier wegtrug, um sie irgendwo im Boden als Wintervorrat zu verstecken. Oft fanden wir die gefressenen Eier direkt im Nest oder einige Meter davon entfernt. An dem Zustand der Eierschale konnten man erkennen, ob die Küken tatsächlich geschlüpft sind oder ob die Eier gefressen worden sind: Ist das Küken ausgeschlüpft, sah man deutlich die Membran. Je nach Lebensraum (ob im sumpfigen Gelände oder an Berghängen) war der Prozentsatz der geschlüpften Küken unterschiedlich. Das hing wesentlich von der Aktivität der Predatoren ab. Der Bruterfolg hängt aber immer auch von der Kondition der Brutvögel ab: Hat eine Gans gesund und fett Kolguev im Frühling erreicht, so stehen die Chancen gut für eine erfolgreiche Brut. Es ist auch wichtig, einen guten Neststandort gefunden zu haben. Davon profitieren vor allem die früh eingetroffenen Vögel. Diese jedoch haben unter Umständen wiederum mit noch harten winterlichen Bedingung zu kämpfen. Und schließlich sind unerfahrene, noch junge Eltern sind häufiger erfolglos als erfahrenere.

Exkursionen in die Umgebung

Es herrschte große Aufregung im Camp: per Satelittentelefon erreicht uns eine SMS, dass sich Wus auf Kolguev aufhält. Auch er (Wus, ein Blessgansganter) wurde in den Niederlanden gefangen und mit einem Sattelitensender ausgerüstet. Alex, Elya and Alena machten sich auf den Weg, um ihn zu suchen. Zusammen mit 140 Bless-, Nonnen- und Saatgänsen konnten sie ihn genau an dem aus Deutschland durchgegebenen Ort entdecken.
Zur selben Zeit machten sich Jochen und Nicole zur Westküste auf. Sie kontrollierten den Schlupferfolg der Nester auf dem „Westkorridor“. Der Weg führte immer entlang des Flusses Kitovaya und je näher die Küste kam, desto größere Gruppen mausernder Nonnengänse hielten sich am Fluss auf. Vor der Küsten hatten sie das Glück einige Schweinswale zu sichten.
Weitere Exkursionen gingen zu den Gletscherseen nördlich des Peschankas, nach Izhimka-Tarka und zum oberen Elgov-Tarka- Fluss. Hier fanden wir größere Ansammlungen von mausernden Gänsen und jungen Familien.

 

Mausernde Gänse und Familienzählung

Um einen Überblick über die Anzahl der mausernden Gänse und der Familiengröße zu bekommen, führten wir regelmäßig Zählungen entlang des Pechankas durch und unternahmen Tagesausflüge zu den Gletscherseen. Während auf dem Fluss vor allem mausernde Gänse waren, sammelten sich die Familien auf den kleinen Seen in den Plateaus.
Zu Beginn waren auf dem Peschanka überall viele kleine Gruppen mausernder Gänse (zwischen 10 und 200 Vögel) verteilt. Mit der Zeit jedoch schlossen sie sich zu immer größeren Trupps zusammen und schließlich fanden wir häufig fast 2000 Gänse aller drei Arten zusammen. Auch bei den Familien zeigte sich dieses Aggregationsmuster: Im Juli noch sahen wir nur 4-10 Bruten auf einem See schwimmen, Anfang August nicht selten 30-40 Familien. Am 13. August zählten wir entlang einer 40km langen Route im Gletscherplateau fast 300 Familien. Zwei Expeditionsmitglieder untersuchten an diesem Tag ein Teilstück der Route (175 Familien auf 25 km und 107 auf 15 km).
Auch veränderte sich die Anzahl der Küken pro Familie im Laufe der Saison. Daran konnten wir feststellen, wie sich der Schlupferfolg der Küken mit fortschreitender Saison veränderte. Auch gab das einen Hinweis auf den Erfolg des Flüggewerdens der Gänse. Dieser hängt von vielen Dingen ab: Da am Anfang der Saison beispielsweise nur wenige Küken durch die Tundra laufen, ist die Gefahr für das einzelne Tier größer, gefressen zu werden. Später profitieren die Küken vom Schutz der Gemeinschaft.

 

Fangen und Markieren - aber wie?

Im Mittelpunkt unserer Untersuchungen stand einerseits die Brutbiologie der arktisch brütenden Gänse. Andererseits mächten wir auch wissen, wohin die auf Kolguyev brütenden Gänse im Winter ziehen. Daher ging es uns im August vor allen Dingen darum, mausernde Gänse und Familien auf den Gletscherseen zu fangen.

Klappnetze
Während der Brutzeit sind die Altvögel alle noch flugfähig. Es ist recht aufwendig, flugfähige Gänse zu fangen, denn diese sind aufgrund der vielen schlechten Erfahrungen mit Menschen sehr mißtrauisch. Doch: Vogelberingung ist nicht nur Wissenschaft, sie ist auch Handwerk und... Kunst. Zudem sind Gänse, die man während der Brutzeit markieren kann, besonders interessant: wieviele der geschlüpften Küken der Familie überleben? Wohin wandern die Altvögel mit ihren Küken? Diese und viele andere Fragen können wir nur klären, wenn wir die Familien eindeutig erkennen können.

Für den Klappnetzfang wurden einige Vorbereitungen am Nest getroffen: Bei Abwesenheit der Eltern wird das Klappnetz vorsichtig und unsichtbar am Nest montiert, wenn die Küken gerade schlüpfen. Die Aktion muss schnell gehen, denn die Altvögel sind in dieser Phase niemals lange fort. Das Team verlässt die Nestumgebung möglichst ohne sichtbare Zeichen zu hinterlassen. Nach wenigen Minuten kommen die Elternvögel zurück. Schöpft die Gans keinen Verdacht, setzt sie sich zurück aufs Nest. In diesem Moment wird durch einen automatischen Klappmechanismus, den man per Funk aus einiger Entfernung betätigen kann, das Netz blitzschnell zugeschlagen und die Gans ist gefangen. Auch danach muss alles schnell gehen, denn die frisch geschlüpften Küken dürfen nicht gefährdet werden.

Gänsefangen im Netz
Um die mausernde Gänse zu fangen, bauten wir eine kleine Fanganlage auf. Die Stelle musste gut überlegt sein und es erforderte zunächst einige Tage Erkundungen des Geländes und des Verhaltens der Vögel. Optimal waren Gletscherseen, die zwischen kleinen Hügeln lagen. Ungesehen konnten wir so im Tal die Netze aufstellen und später die Gänse in die Netze scheuchen. Die Netze laufen trichterförmig zu und enden in einem „Coral“, den man später zuschließen kann.
Sobald die Netze aufgebaut waren, verteilten wir uns – ausgerüstet mit unseren Walkie-Talkies zur Verständigung – im Gelände. Jeder hatte eine wichtige Aufgabe: Die Gänse aus dem See ins Netz treiben oder die Gänse in Richtung des Netzes zurück zuscheuchen, wenn sie versuchten, daran vorbei zulaufen.
Unsere Fangversuche waren nicht immer erfolgreich! So versuchten wir einmal stundenlang, einen Trupp Nonnengänse ins Netz zu locken. Wir scheuchten sie sogar mit einem Kanu vom See, doch die Gänse schienen zu ahnen, was wir mit ihnen vorhatten....

 

Mehr als nur beringt...

In insgesamt 7 Fängen konnten wir 103 Gänse fangen - 69 Blessgänse, 32 Saatgänse, 1 Graugans und 1 Nonnengans - Bis auf ein Blessgansweibchen, das schon einen niederländischen Ring trug, bekam jede Gans einen Metallring der Vogelwarte Moskau und die erwachsenen Tiere zusätzlich einen Farbring am Hals (44 Blessgänse: schwarze Halsmanschette, 13 Jungtiere: Fußringe hellgrün-weiß (lime-white), 12 Saatgänse ebenfalls schwarze Halsmanschette)
Wir nahmen Maß vom Kopf, Schnabel, Tarsus (= unterer Beinabschnitt) und der neunten Schwungfeder. Diese Messungen sind in der Gänseforschung streng definiert, damit es möglich ist, das Wachstum der verschiedenen Gänse und Teilpopulationen miteinander zu vergleichen. Außerdem nahmen wir Abstriche und Blutproben, um die Tiere auf Erkrankungen wie Vogelgrippe untersuchen zu lassen sowie eine Federprobe für genetische Untersuchungen. Bevor die Gans wieder freigelassen wurde, wurde sie gewogen und ein Foto von ihr gemacht. Auch wenn es auf den ersten Blick unmöglich scheint, so ist jede Gans doch ein Individuum: Blessgänse haben ein individuelles Muster auf dem Bauch (schwarze Streifen) und Saatgänse unterscheiden sich anhand des Schnabelmusters.

 

Beringung

Eine Insel voller Küken!

Im August konnte man überall zwischen Moosen und Steinen kleine Vogelküken entdecken. Putzmunter liefen die kleinen Moorschneehühner durch die Tundra und auch die Watvogeljungen waren schon kurz nach dem Schlüpfen auf den Beinen. Im Gegensatz zu den Singvögeln, die ihren Nachwuchs noch für einige Zeit im Nest großziehen, verlassen Watvögel als sogenannte Nestflüchter alsbald das Nest und müssen sich ihre Nahrung alleine suchen. Waren wir in der Tundra unterwegs, hatten wir nun immer ein paar Metallringe dabei. Solange die Sing- und Watvögel noch nicht flügge waren, konnten wir sie leicht fangen und beringen.
Etwas schwieriger war es da schon, den Wanderfalken- und Raufußbussardjungen einen Ring umzulegen. Dazu mussten wir sie im Nest aufsuchen, die Eltern stets nah über uns kreisend. Die kleinen Greifvögel waren regelrecht kleine Teufel: nicht nur, dass sie einen ohrenbetäubenden Lärm machten, nein, sie hatten auch, obwohl sie noch so klein waren, schon scharfe Krallen und einen besonders gefährlichen Schnabel...

 

Speiseplan auf Kolguev

Als Jochen mit dem Helikopter kam, brachte er drei Gurken, für jeden eine Tomate und zehn Äpfel mit. Mehr an frischem Obst oder Gemüse gab es nicht. Es ist nicht immer leicht, in Naryan-Mar Nahrungsmittel einzukaufen... Natürlich waren wir alle etwas enttäuscht, aber immerhin gab es neues Brot und leckeren getrockneten Fisch aus Tobseda sowie zwei Flaschen Bier.
Aber wer drei Monate in der Wildnis lebt, der weiß sich zu helfen: Die Natur Kolguevs bietet einen reich gedeckten Tisch, wenn man nur ein wenig um sich schaut! Ganz oben auf unserem Speiseplan aus der Wildnis stand der Fisch, den wir fast täglich aus dem Peschanka fischen konnten. Er wurde entweder in Salz eingelegt und am nächsten Tag gegessen oder noch am selben Abend in der Pfanne gebraten. Frisches Gemüse lieferte <i>Angelica archangelica</i> (Engelwurz). Diese Pflanze wuchs unten am Fluss und man konnte die kleinen, noch nicht aufgegangen Blütenknospen prima auf dem Rückweg zum Camp sammeln. Sie schmeckten frisch und leicht bitter und erinnerten an Rosenkohl. Später im Sommer konnte man natürlich auch Pilze sammeln. Die gab es hier in Hülle und in Fülle. Als Salatzutat eigneten sich junge Sauerampferblätter und wer krank wurde , wurde mit der Medizin Mutter Naturs wieder gesund: Tee aus Islandmoos half gegen Halsschmerzen. Und in den letzten Tagen wurde sogar noch die Moltebeere reif! Ein unwiderstehlicher Geschmack, sonnengereift und frisch gepflückt direkt in den Mund.

 

No speed limit? ...!

In der zweiten Augusthälfte gab es noch einmal ein heftiges Unwetter. Den ganzen Tag über war es nebelig und regnerisch. Wir machten es uns mit ein paar selbstgebackenen Leckereien vor unserem Laptop gemütlich und guckten DVDs, denn was sollte man sonst schon bei einem solchen Wetter machen. Als wir schließlich gegen Mitternacht in unsere Zelte krochen, hatte der Regen zwar etwas nachgelassen, der Wind fegte aber immer noch über das Camp. Jeder wartete nur darauf, dass sein Zelt über ihm zusammenbrach. Man bekam ständig die Zeltwand an den Kopf gepeitscht und in den Ecken sammelte sich schon das Wasser... Und dann, mitten in der Nacht, war es schließlich soweit: Die Trägerstangen von Elyas und Alex’s Zelt gaben auf. Viel schlimmer aber noch: Völlig verständnislos mussten wir feststellen, dass unser Zelt „Brest – no speed limit“ sehr wohl ein Speed limit hatte, welcher nämlich bei 22 m/sec (9 Beaufort) lag. In diesem Zelt war unser ganzer restlicher Proviant und das Equipment. So verbrachten wir wohl die schlafloseste aller Nächte auf Kolguev. Unser Wohnzelt mit dem stolzen Namen„Adventure ahead“ hatte uns ja eigentlich vorgewarnt...

Den nächsten Tag verbrachten wir damit, unsere Zelte zu reparieren und unsere Sachen zu trocken. Der Wasserspiegel im Peschanka war über Nacht gewaltig angestiegen, so dass er nicht mehr passierbar war und auch unser schon fast ausgetrockneter Camp Creek war über die Ufer getreten. Es war wie kurz nach der Schneeschmelze.

 

Weltweites Warten - hier: Helikopter

Der 16. August, der Tag der Rückkehr, rückte immer näher. Schon einige Tage vorher begannen wir, alle Dinge zutrocknen und räumten die ersten Sachen zusammen. Am letzten Abend gab es eine kleine Abschiedsparty. Wir hatten sogar ein paar Kerzen aufgestellt, denn mittlerweile war es abends schon richtig „dunkel“. Zuversichtlich standen wir früh am nächsten Morgen auf und bauten die letzen Zelte ab. Zwar war es etwas nebelig, aber das sollte nichts bedeuten, denn schließlich kann die Sonne von einem Moment zum nächsten durchbrechen. Also haben wir all unser Gepäck am Helikopterlandeplatz aufgetürmt, und dann gewartet und gewartet und gewartet.... zwischendurch Moltebeeren genascht gegen den aufkommenden Hunger, immer mehr Schichten Klamotten angezogen, weil es immer kälter und feuchter und windiger wurde und gehofft, der Hubschrauber würde bald kommen. Leider hatten wir so gut wie keinen Kontakt mehr zur Außenwelt: Unser Iridium-Telefon war ab dem 16.8. abgeschaltet und das Satellitentelefon funktionierte ja mit Glück etwa 10 Minuten lang am Tag, die man genau abpassen muss. Also haben wir mit unserer Notbatterie das Telefon geladen und auf das Display gestarrt, um dann im richtigen Moment, wenn der Connection-Tower auf dem Display erschien, beim Airport in Naryan-Mar angerufen: Schon Morgens war es so nebelig in Bugrino und in Tobseda, dass man gleich nach dem Frühstück beschlossen hat, nicht nach Kolguev zu fliegen. Das bedeutete also: Zelt wieder aufbauen und noch eine Nacht ausharren. Zum Glück hatten wir noch eine Notration an Essen und eine letzte Flasche Wodka. (Alex denkt wirklich an alles!)
Der nächste Morgen sah allerdings nicht vielversprechender aus als der letzte: Es gab sogar noch ein kräftiges Gewitter! Doch wie durch ein Wunder brach der Himmel auf und die Sonne fing a zu scheinen. Und am Nachmittag hörten wir endlich das langersehnte Knattern des Helikopters!

 

Zurück in Nayarn-Mar

Nach einen kurzen Zwischenstopp in Tobseda, wo wir das niederländisch-russische Team einsammelten, landeten wir kurz vor 6 Uhr abends in Naryan-Mar. Zwar hatten einige Mitglieder des Tobseda-Teams nun ihren Flug verpasst, doch finden sich auch hier Mittel und Wege. Es war warm in Naryan-Mar und wir stürzten erst mal in die Geschäfte und kauften allerlei leckere Dinge ein. Da wir alle im selben Hotel waren, gab es – natürlich erst nach einer richtig echten Dusche - einen feuchtfröhlichen Abend mit einer Riesenmenge Salat und frischem Brot und Eis zum Nachtisch. Es folgte ein Toast nach dem anderen: auf Kolguev, auf Tobseda, auf die Gänse, auf unsere beiden Teams, auf internationale Zusammenarbeit und auf die Leute, die Outdoor-Equipment herstellten und einfach auf alles. Wir waren alle glücklich und zufrieden von einem aufregendem Sommer in der wilden arktischen Tundra zurück!

In Nayarn-Mar wurde am nächsten Tag die Ausrüstung für den kommenden Sommer eingemottet. Es mußte zudem viel organisiert werden: einige Teilnehmer hatten durch die Verspätung des Hubschraubers ihre Anschlußflüge verpasst und es mußten daher die Tickets umgebucht werden. Dennoch kamen alle Expeditionsteilnehmer wohlbehalten wieder nach Hause. Ein internationales Team: Russland, Deutschland, Niederlande, Finnland.

 

Nicole Feige